Colour Me Culture

Analogien zu Kulturverständnis.

Wer kennt nicht das Gefühl nach dem Tragen einer Ski- oder Snowboardbrille (oder sonstigen bunt gefärbten Brillen): trägt mensch sie für längere Zeit und nimmt sie dann ab, entsteht eine verkehrte Farbenwelt. Plötzlich scheint der weiße Schnee ohne Brille blau oder grünlich zu sein. Auge und Gehirn haben sich an die Farbfolie derart gewöhnt, dass sie uns noch ein paar Minuten später eine Welt in Komplementärfarben vorgaukeln.

Was aber nun, wenn wir alle von vorn herein eine farbige Brille tragen, durch die wir die Welt sehen? Es ist keine „rosarote Brille“ im geläufigen Sinne, denn selbst wenn wir sie abnehmen, werden wir dahinter keine Realität finden – wenn überhaupt, dann nur eine graue Welt ohne Vorstellungen, Wünsche und Lebenskultur. Die Hypothese, dass jede_r mit einer farbigen „Kulturbrille“ ausgestattet ist stammt aus dem Kontext des Interkulturellen Lernens.
Sie findet sich in unzähligen Hand- und Lehrbüchern und wird von unterschiedlichsten Institutionen als Analogie für Interkulturelle Erfahrungen verwendet.1 Um den Wert dieser Farbanalogie für Kulturerfahrungen aufzuzeigen, möchte ich die Geschichte kurz in eigenen Worten umreißen (und dabei mich bewusst Formulierungen wie „angeboren“ nicht anschließen und auch Kulturen nicht als nationalbestimmt begreifen, wie es in vielen Versionen der Analogie vereinfacht passiert).

Jeder Mensch wird in einen bestimmten Kulturkreis sozialisiert, von dem kleinen Kreis des persönlichen Umfelds bis hin zur großen gesellschaftlichen und politischen Situation. Diese Sozialisierung wird in der Analogie mit einer Sonnenbrille, die mitgewachsen ist, gleich-gesetzt. Vereinfacht gedacht hat diese Sonnenbrille für alle Menschen eines Kulturkreises die gleiche Farbe, in dem Beispiel der Analogie ist sie gelb:

„Nehmt die gelben Sonnenbrillen ab und seht sie euch an. Was sie gelb machen, sind die Werte und Einstellungen, die wir gemeinsam haben. Alles was wir gesehen, gelernt oder erfahren haben, ist durch die gelben Gläser ins Gehirn gelangt. Alles wurde durch die Werte und Ideen, die die Gläser gelb gemacht haben, gefiltert und interpretiert. Die gelben Gläser repräsentieren also unsere Einstellungen und Werte; sie repräsentieren unsere Kultur.“

Wenn wir reisen oder uns länger in einem anderen Kulturkreis aufhalten, so erkennen wir bald die Notwendigkeit einer anderen Brille, um mehr begreifen und verstehen zu können. Was passiert daraufhin in der Analogie?
Mensch setzt zusätzlich zur gelben Brille einfach eine zweite Brille (in dem Beispiel ist sie blau) auf und sieht, in dem Glauben, die andere Welt nun perfekt verstehen zu können, alles grün. Demzufolge ist unser Verständnis einer anderen Kultur immer nur ein Teilverständnis, ein „Mischverständnis“, das von unserer eigenen Sichtweise geprägt ist. Die Analogie schließt mit dem Ausblick, dass für besseres Verstehen zuerst die Auseinandersetzung mit den eigenen Vor(ein)stellungen notwendig ist. Erst ein Erkennen der eigenen „Brille“ ermöglicht es, andere Farben differenzierter wahrzunehmen.

Andere, ebenfalls im Kontext des Interkulturellen Lernens häufig zitierte Konzepte von Kulturerfahrung beachten die enormen Auswirkungen der eigenen Voreinstellungen auf das Verstehen anderer Kulturen nicht. Zu erwähnen ist an dieser Stelle das sogenannte Eisberg-Modell, das ursprünglich den Aufbau von Persönlichkeit beschreiben soll, allerdings auch auf sichtbare und unsichtbare Teile einer Kultur übertragen werden kann. Ihm zufolge ist stets nur ein kleiner Teil als Ausdruck von Kultur sichtbar (Kleidung, Essen, Gestik, Mimik etc.) und der viel größere Teil bleibt unsichtbar, muss erst langsam erkannt und verstanden werden.2 Gert Hofstedes Zwiebelmodell veranschaulicht ähnliches: Dass jeweils nur die Praktiken einer Kultur sichtbar sind, ihre Bedeutungen und Werte aber, einer Zwiebel gleich, Schicht um Schicht verborgen sind.3

Das Modell mit den unterschiedlichen Farben der Sonnenbrillen hingegen betont mehr die Seite der Rezipient_innen und die Eigenheiten der Rezeption von anderen Kulturen. Mischfarben, das ist also die Seherfahrung beim Kennenlernen anderer Kulturen. Als extremste Form wäre dann der Kulturschock ein buntes  Chaos, der Moment, indem wir feststellen, dass Grün auch  nicht geeignet ist um alles zu verstehen – es ist ein komplexer Prozess einer sich verändernden Farbwahrnehmung, einer differenzierteren Kulturwahrnehmung.

Elisabeth Hanzl

1 Einfach den Suchbegriff „Sonnen-brillen-Analogie“ im Internet eingeben und in den Resultaten schmökern.

2 http://www.transkulturelles-portal.com/index.php?option=com_content&view=article&id=56&Itemid=63

3 http://www.transkulturelles-portal.com/index.php?option=com_content&view=article&id=56&Itemid=65

Weiterführendes und Praktisches:

  •  Trainingskit zu Interkultureller Kommunikation, herausgegeben vom Council of Europe: http://youth-partnership-eu.coe.int/youth-partnership/publications/T-kits/4/Tkit_4_GER
  • „Promoting European Citizenship Education“, Handbuch mit Theorie und Aktivitäten zu Interkulturellem Lernen, herausgegeben von EFIL (European Federation for inter-cultural Learning): http://efil.afs.org/efi_en/view/2957

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